Es ist grau draußen. So ein Grau, das einem feucht und kalt unter die Haut kriecht. Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf und frage mich, wie ich auf die Idee gekommen bin, bei diesem Mistwetter mit frisch gewaschenen Haaren loszugehen. Die Eitelkeit verbietet doch die Mütze auf dem gerade gefönten Kopf. Und ich will bei Frau Dr. einen guten Eindruck machen. Obwohl ich glaube, dass Frau Dr. nichts Unansehnliches erspart bleibt in ihrem Job. Ich würde da wohl auch mit zerzaustem Haar ganz gut bei wegkommen. Naja, man lernt nie aus.
Jedenfalls ist es kurz vor neun an einem Freitagmorgen im Januar. Ich betrete das mäßig gefüllte Wartezimmer von Frau Dr., werfe ein freundliches Guten Morgen in die Runde und zeige der Schwester, dass ich da bin. Dann suche ich mir einen freien Bügel, hänge meine Jacke an die Garderobe, setze ich mich mitten in eine leere Stuhlreihe und warte. Nach einigen Minuten geht die Tür auf und eine alte Frau betritt das Wartezimmer. Sie ist nicht gut zu Fuß und etwas außer Atmen. Auch sie zeigt sich kurz der Schwester und pellt sich anschließend angestrengt aus ihrer Jacke. Ich stehe auf, suche einen freien Bügel und nehme ihr die Jacke ab. Daraufhin schaut sie mich mit großen Augen an und sagt in herrlich pommerscher Nüchternheit: „Sowas wie Sie gibt es noch?“. Meine Antwort fällt ebenso pommersch korrekt aus: „Jo.“ Einen Moment später lässt sie sich rechts von mir auf den Stuhl fallen und atmet erstmal durch. Der Rest der morgendlichen Wartezimmergesellschaft schweigt und versucht Augenkontakt zu vermeiden. Plötzlich kommt von rechts neben mir: „Ist glatt heute. Oder? Ist doch glatt?“ Niemand antwortet, bis ein Mann mittleren Alters Erbarmen hat: „Jo, ist glatt heute.“ „Na, sag ich doch.“, unterstreicht die alte Frau. Und weiter: „Jedenfalls haben wir in Sallenthin seit gestern um neun kein Wasser. Sollte nur ne Stunde sein. Jetzt haben wir es wieder neun.“ Keine Antwort, nur betretenes Nicken. Die Tür geht wieder auf. Eine weitere alte Frau betritt das Wartezimmer. Gut zu Fuß und leicht beschwingt. Sie zieht die Jacke aus, zeigt sich der Schwester und nimmt links von mir Platz. Rechts von mir vermeldet: „Ist glatt heute.“ Links von mir antwortet sofort und ohne den Blick nach rechts von mir zu wenden: „Nee, ist nicht glatt heute.“ Woraufhin rechts von mir kontert: „Also da wo ich gelaufen bin, wars glatt.“ Auch sie sucht keinen Blickkontakt zu links von mir. Dafür kommt: „Wir haben kein Wasser in Sallenthin.“ Links von mir: „Jo.“ Rechts: „Seit gestern um neun.“ Links: „Aha.“ Rechts: „Also wenn etwas komisch riecht, bin ich das.“ Es ist wie beim Pingpong. Links: „Ich riech nichts.“ Rechts: „Hatte noch etwas Wasser in der Gießkanne. Konnte Franz und mir wenigsten Kaffee machen heute früh.“ Links: „Also das würde ich ja nicht trinken.“ Rechts: „Warum nicht? Ist doch nur Wasser.“ Ich lehne mich vor, vielleicht suchen die Damen ja doch noch Blickkontakt miteinander. „Hatte nur einen Eimer gestern morgen abgefüllt. Kann ja keinen ahnen, dass es so lange dauert“, sagt Rechts. Links fragt: „Und ist jetzt wieder Wasser?“ Rechts: „Nee, kein Tropfen.“ Links: „Hm.“ Der Lautsprecher knarzt und ruft einen älteren Mann mit einem Pflaster am Ohrläppchen auf. Der steht auf und geht durchs Wartezimmer, gefolgt von 2 Augenpaaren. Eins links und eins rechts von mir. Dann begeben sich beide Augenpaare wieder zurück in Ausgangspositon und rechts von mir meint: „Naja, jedenfalls war das glatt heute morgen.“ Ich muss schmunzeln. „Wir haben Wasser“, sagt links von mir. „Bin ganz vorsichtig vom Auto hierher gegangen“, entgegnet Rechts. Woraufhin Links meint: „Und wie lange soll das dauern mit dem Wasser?“ Rechts: „Hoffentlich ist es nachher besser.“ Links: „Das können die doch nicht machen.“ „Soll das morgen wieder glatt werden?“ „Haben die anderen auch kein Wasser?“ „Naja, vielleicht haben wir ja Wasser, wenn ich wieder zuhause bin.“ Der Lautsprecher schreitet ein und ruft meinen Namen. Verdammt, denke ich, es war gerade so witzig. Dann stehe auf und gehe mit einem Grinsen zu Frau Dr.
Als ich wieder ins Wartezimmer komme, wünsche ich allen einen schönen Tag und der alten Frau rechts von mir, dass sie wieder Wasser hat, wenn sie nach Hause kommt und dass sie vorsichtig gehen soll. Es soll glatt werden.
(Der einzige Name in diesem Text wurde geändert. Der Rest hat sich so oder so ähnlich angespielt.)